Für meinen Großvater Günther Brandy bedeutete der 8. Mai 1945 die Befreiung aus dem KZ Theresienstadt. Als Christ jüdischer Abstammung war mein Großvater schon 1933 aus seinem Beruf entlassen worden. Er wurde mit seiner Familie ausgegrenzt und entrechtet, aber wegen seiner „arischen“ Ehefrau, die sich dem Druck auf Scheidung mutig widersetzte, lange nicht deportiert. Im Februar 1945 aber wurde er nach Theresienstadt verschleppt, weil dort die Arbeitskräfte knapp wurden. Am 8. Mai, zeitgleich mit der deutschen Kapitulation, befreite die Rote Armee das KZ Theresienstadt. Mein Großvater war Mitte Juni wieder zu Hause in Hildesheim. Er überlebte, hat sich aber von der Krankheit, die er sich in Theresienstadt zuzog, nie wieder richtig erholt.
„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“, hat Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner epochalen Rede am 8. Mai 1985 gesagt. „Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Mein Großvater hat das wie ungezählte andere Menschen am eigenen Leibe erfahren. Am Ende eines Krieges, der über 50 Millionen Menschen das Leben gekostet und über ungezählte andere großes Leid gebracht hatte.
Mein Großvater mütterlicherseits, Alexander von Seebach, hatte den Krieg vom ersten bis zum letzten Tag als Offizier miterlebt. Unfassbares hat er miterlebt. Als einer der wenigen Männer aus seiner Familie hat er den Krieg überlebt. „Zu diesen zu gehören, war Gnade“, schreibt er in seinen Lebenserinnerungen.
Am 1. Mai 1945 hatte er vom Tod Hitlers gehört. Eine Frau hatte geschrien, so mein Großvater wörtlich: „Der Führer ist tot, er ist wahrhaftig tot!“ Der „Führer“, dem viel zu viele Deutsche viel zu lang zugejubelt hatten, hatte sich das Leben genommen. „Der Führer ist tot, er ist wahrhaftig tot!“ Die Formulierung finde ich atemberaubend, denn das Gedenken am 8. Mai liegt ja in der Osterzeit, in der sich die Christen zurufen: „Der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden!“ Was für ein Kontrast, was für ein Wort der Hoffnung im Blick auf so viel Leid und Sterben! Es erinnert aber auch daran: Die Kirchen haben damals Schuld auf sich geladen. Sie haben viel zu wenig gesehen, dass es in einem unauflösbaren Widerspruch stand, dem „Führer“ zu folgen und auf Christus als den Herrn zu vertrauen.
Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung. Und er war der Beginn einer ganz ungewöhnlich langen Phase des Friedens von 75 Jahren in Mitteleuropa. Das sollte uns mit großer Dankbarkeit erfüllen. Auch das ist Gnade.
Zugleich ist das eine Verpflichtung zu umso größerer Verantwortung. Frieden ist nicht selbstverständlich. Das spüren wir heute deutlich. Rassismus, Feindseligkeit und nationale Egoismen sind wieder viel stärker, als wir es lange für möglich gehalten hätten. Mich erschreckt das. Und es ruft mich auf, umso stärker einzutreten für Frieden und Versöhnung. Einzutreten gegen rassistische Sprüche, verrohte Sprache und hasserfüllte Posts im Internet. Zu widersprechen, wenn Menschen gegen Europa stänkern. Die Europäische Einheit ist ein einzigartiges Friedensprojekt, das es zu verteidigen gilt und in dem wir auch füreinander einstehen müssen - gerade auch in Zeiten, in denen die Corona-Krise andere Länder härter trifft als uns. Ein friedliches Miteinander ist derzeit vielfältig gefährdet. Da sind wir alle an unserem Ort gefragt.
„… und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens“. So betet ein alter Priester in der Vorgeschichte zur Geburt Jesu (Lukas 1,79). So beten und hoffen auch wir am 8. Mai 2020: dass dieser Mann aus Nazareth, der Christus Gottes, unsere Füße auf den Weg des Friedens richte, dass wir aus seinem Geist des Friedens Kraft schöpfen, für Frieden einzutreten. Christenmenschen können das, weil sie sich in Gott geborgen wissen. Weil sie sich an Jesus Christus festhalten, der uns seinen Frieden zusagt: „Christus ist unser Friede“ (Epheser 2,14)
Regionalbischof Dr. Hans Christian Brandy, Stade